Gerd Dengler

Eine Schwadronage, wie sie in Katalogen steht

Als ich eine Mail von Urs Freund bekam, mit den PDFs von seinen neuen Bildern und der Bitte um einen Textbeitrag für seinen Ausstellungskatalog, habe ich mir mit meiner Antwort selbst eine Falle gestellt, in der ich nun herumzapple.

Lieber Urs, Bilder sind klasse, möchte Originale sehen und freue mich darauf. Die Kühle und die fotografische Detail- und Perspektivensicht bilden einen Sog und schaffen gleichzeitig Distanz, sodass alles glasklar zu sehen ist. Aber der Verdacht, es gäbe ein Geheimnis, steigt simultan dazu auf. Harte Nuss, darüber zu schreiben, ohne zu schwadronieren. Der bedenkenswerte Titel tut ein Übriges dazu. Gruß Gerd

Weil diese üblichen Schwadronagen in Kunstkatalogen meist überflüssig sind, werde ich mich also auf drei Fragen, Urs Freund, die Ausstellung und seine Malerei betreffend, beschränken und dennoch dem Schwadronieren nicht entkommen:

I.) Rotkäppchens Mutter?

Die Geschichte vom Rotkäppchen geht wahrscheinlich auf einen uraltern Mythos zurück. Als Märchen der Brüder Grimm und von Charles Perrault ist sie fast jedermann geläufig. Die Hauptprotagonisten sind Rotkäppchen, die Großmutter, der böse Wolf, dann kommt noch der Jäger aktiv ins Spiel. Und der tiefe Wald spielt eine wichtige Rolle. Als eine der vielen möglichen Interpretationen sei hier Perrault zitiert:

„Kinder, insbesondere attraktive, wohl erzogene, junge Damen, sollten niemals mit Fremden reden, da sie in diesem Fall sehr wohl die Mahlzeit für einen Wolf abgeben könnten. Ich sage „Wolf“, aber es gibt da verschiedene Arten von Wölfen. Da gibt es solche, die auf charmante, ruhige, höfliche, bescheidene, gefällige und herzliche Art jungen Frauen zu Hause und auf der Straße hinterherlaufen. Und unglückseligerweise sind es gerade diese Wölfe, welche die gefährlichsten von allen sind.“

Warum kapriziert sich Urs Freund auf Rotkäppchens Mutter, die dem Kind warnende Ratschläge gibt, einen Korb mit Kuchen und Wein für die Großmutter packt und das Mädchen in den gefährlich tiefen Wald losschickt? Was hat das mit den ausgestellten Bildern zu tun. Es kommt in der Geschichte, folgt man der obigen Interpretation, noch zu Kannibalismus, wenngleich ein happy end folgt. Die Mutter spielt – so ich mich recht erinnere – weiter keine Rolle, vielleicht hat sie beim happy end mitgeholfen, den Wein auszutrinken.

Verführt uns Urs Freund mit seinem Titel, wie der Böse Wolf Rotkäppchen, um uns zu Betrachtungen zu verleiten, die uns zu einem Geheimnis führen? Nein, es ist kein Geheimnis, sondern ein Rätsel, dessen Lösung ich nun weiß, nachdem Urs mir eine weitere Mail geschickt hat. Ich werde die Lösung aber nicht verraten.

II.) Waldstück?

Das Waldstück war seit langem, wie das Seestück, der Akt, das Stilleben usw. ein eigenes Genre in der abendländischen Malerei. Auf den ersten Blick könnten Urs Freunds Gemälde diesem Genre zugeordnet werden. Nur dem heutigen Kunstbetrieb sind solche Genres höchst obsolet. Auch ist es die Ausnahme, das in diesem Betrieb der Begriff Gemälde eine Rolle spielt.

Bei Lucian Freud, Balthus oder Andrew Wyeth etwa kommen der Kurator oder Händler nicht umhin, deren Arbeiten bzw. Exponate als Gemälde zu bezeichnen. Bei den traditionell mit Ölfarbe auf Leinwand gemalten Bildern von Urs Freund ist es unumgänglich, von Gemälden zu sprechen.

Die Kunstgeschichte, also jene Institution, welche einen Überblick über das Kunst-Geschehen(e) vorgibt zu gewähren, setzt das erste Waldstück um das Jahr 1520 an. Sie meint damit Altdorfers Donaulandschaft mit Schloss Wörth, das neben dem Heiligen Georg samt Drache im Laubwald in der Alten ­Pinakothek zu München hängt. Es wären die ersten Bilder, in denen die Landschaftsdarstellung der wesentliche (einzige) Bildinhalt ist, belehrt uns die Kunstgeschichte.

Es ist dann eine umfangreiche, ganze dicke Kunstbände füllende, lange Reihe der Waldstücke großer Maler, die bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts führt. Hier sei nur eine kleine sporadische Auswahl von Malern genannt, die Urs Freund sicher nicht wegen des Waldgenres, sondern der Qualität ihrer Malerei wegen intensiv angeschaut (studiert, passt bei Gemälden nicht so recht) hat. Der barocke Niederländer Ruisdael, mit seiner Dramatik, Courbet, der im Dickicht des Waldes in monumentalen Formaten ein Gleichnis vom Leben und Tod ins Bild setzte. Henri Rousseau, der seine wundersamen Dschungelbilder nach Skizzen aus dem Botanischen Garten mit stolzen 62 verschiedenen Grüns malte. Caspar David Friedrich, der den Bäumen Metaphern unterlegte, der Tanne und Fichte etwa die der christlichen Erlösung, der Birke und Pappel jene des Sterbens, der Eiche die der Beständigkeit. Die Aufzählung ließe sich fortführen mit Wolf Huber aus der Donauschule, Frans Post, dem Niederländer, der bewaldete Landschaften in Südamerika gemalt hat, Philipp Hackert, dessen Malschule mit Anleitung des richtigen Blattschlags Geheimrat Goethe herausgegeben hat, dem exzellenten Feinmaler Ferdinand Georg Waldmüller und, und …

Urs Freund kennt sie alle gut. Ich glaube aber, es sind eben weniger die Walddarstellungen, die jeweils ganz unterschiedlichen inhaltlichen Konnotationen, die Metaphorik vom realen Abbild zum romantischen oder soziologischen Topos, die den Maler Freund bewegen. Deshalb möchte ich auch keine Inhaltsanalyse der Freundschen Waldstücke versuchen, zumal die an anderer Stelle im Katalog fachkundig erfolgt. Urs Freund sperrt auch nicht nur die Waldparzellen mit vorgelagerten (akribisch genau) gemalten Stämmen oder gar Leitplanken ab – der erfahrene Waldspaziergänger ahnt, dass ihn im Inneren dieser Nadelholzwälder ein Ambiente aus lauter Riesenklobürsten erwartet –, auch der Einstieg ins Bild wird durch die lapidar alltägliche, unspektakuläre Abbildung zunächst gebremst: „Das kenn‘ ich doch!“

III.) Die Malkunst!

Es ist die Malkunst, an der Urs Freund brennend interessiert ist und der er seine Arbeit widmet. Wenn der Begriff auch nicht in Mode ist, so lässt sich doch feststellen, dass sich die professionellen Maler seit jeher an den Werken der vorhergehenden Maler orientierten, daraus Lehren zogen, sie veränderten, auch überwanden, weiter entwickelten. Das kann an der Geschichte der Gemälde von fast tausend Jahren betrachtet werden. (Geht man weiter zurück nach Pompeji, zu den Griechen, ja bis zur Höhlenmalerei, kommt man auf annähernd 30 000 Jahre Malereigeschichte.)

So ist die Malkunst gewachsen, deren wunderbare Blüten immer anders und frisch blühen – die im Gegensatz zu Blumen nicht welken. Erst im 20. Jahrhundert, als die Malerei aus mehrerlei und situationsbedingt zwingenden Gründen autonom wurde, erschien diese Tradition vielen Künstlern und deren Rezipienten weniger relevant. Sie verbannten das Abbild aus dem Bild, was jedoch nicht den Verzicht auf Malkultur bedeutete, denn sie strebten mit ihren „abstrakten“, gegenstandslosen Bildern durchaus einen bildnerischen Gehalt an, welcher der Abstraktion in der bisherigen Malkunst innewohnt. Dann aber, vermutlich zeitbedingt, wurde Neues, nie Dagewesenes für einen sich etablierenden Kunstbetrieb immer mehr zum Dogma. Der Künstler schuf mit seiner Arbeit ein ihn bzw. seinen Namen repräsentierendes Markenzeichen, das er als seine Kunst reproduzierte. Warhol hat dies auf die Spitze getrieben und gleichzeitig damit offengelegt. Nicht das Bild, sondern der Name wurde zum Wertmaßstab. Baselitz z.B. hat als Label das Kopfstehen seiner halbgegenständlichen Motive gewählt und dies selbst künstlerisch intelligent befunden. Diverse neue Medien zogen ein in den großen Salon der Malerei, parodierende Methoden, wie etwa bad-paintig, wurden unverstanden imitiert, es kam zum anything goes in der Kunst, bzw. deren Betrieb.

Urs Freund, der 1983 sein Studium an der Münchner Akademie begann, hat wachen Auges diese Entwicklung beobachtet. (Beworben hatte er sich mit einer Mappe mit inhaltlich anarchischen Schwarz-Weiß Comics, deren Thematik er Jahre später literarisch im Band Gommorra-Blues wieder aufnahm.) Sein Interesse und seine Entscheidung galten jedoch der Malkunst eines van Eyck, eines Vermeer … Moreau, der Maler-Mystiker und ­Außenseiter, aber auch insgesamt die Bilder in der Alten Pinakothek beeinflussten den jungen Maler und waren ihm Vorbild. An harte Kämpfe um die Maltechnik kann ich mich erinnern, die er in beflissener Arbeit bestand. Innerhalb einer Malklasse jener Zeit mag dies eine Ausnahme gewesen sein, aber außerhalb gab es ja durchaus diese außergewöhnlichen Maler (hier sei nur an die anfangs erwähnten Freud, Baltus, Wyeth erinnert, um nicht ins Namedropping zu geraten). Erste Waldstücke gab es da schon, mit der Sorge thematisch der Idylle oder der mystischen Aufladung des Sujets zu unterliegen. Denn Urs Freund malte immer mit dem Pinsel, nicht mit dem Zeigefinger, wie jene auf den Zeitgeist zielenden Künstler, die in mehr oder weniger ähnlicher Präzision vermeintlich sozialkritische oder politische Bilderstatements abgaben.

Freilich sind die Gemälde „für Rotkäppchens Mutter“ interpretierbar, deutbar, haben, wenn man so will, literarischen Inhalt. Erschlossen, soweit das möglich ist, können sie bis zu einem gewissen Grad nur durch das Betrachten werden. Dieses intensive Anschauen wird aber immer auch ein Genuss sein.

Wenn ich mich recht erinnere, hat mein Kollege und Freund, der Bildhauer Robert Jacobsen auch beim Staatsexamen von Urs Freund gesagt, man solle Bilder nicht mit den Ohren, sondern mit den Augen anschauen.

Prof. Gerd Dengler war Professor für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste München

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